Eine Wanderung zu mir – Die etwas andere Therapiestunde

Unsere Autorin hat einen Tag mit dem Bergführer und Psychologen Pauli Trenkwalder verbracht. Und festgestellt: Wer die Berge sucht, könnte sich selbst finden. Eine ottonova Reportage.

Inhalt des Ratgebers

Mein linker Fuß balanciert auf einem kleinen Felsvorsprung. Mein rechter Fuß versucht an der anderen Seite des Kamins Halt zu finden. Eine Hand hat die rettende Kante schon erreicht, die andere, schweißig, rutscht langsam vom Stein. Ich kann Pauli nicht mehr sehen. Mein Atem wird von den mich umgebenden Felswänden zurückgeworfen;  ich kann mich hören, hektisch und angestrengt. Mist, das pack ich nicht! Ich hänge irgendwo in den Dolomiten, nur ein winzig kleiner Fliegenschiss für die aufragenden Berge. Und spüre mich plötzlich wieder mit einer Heftigkeit, die mich erschreckt und gleichzeitig eine Stelle in mir berührt, die lange nicht mehr berührt wurde.

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Von der heiligen Stätte zum Präventiv-Zentrum

Die Beziehung zwischen Berg und Mensch war schon immer eine besondere. Ganz früher, da waren die Berge heilig. Dort oben hausten Dämonen und wahlweise Götter. Hinaufgestiegen ist nur, wer unbedingt musste, wer lebensmüde war oder verrückt. Dann kam die Pionierzeit des Bergsteigens, als der Mensch anfing, Gipfel zu erobern und zu sammeln wie Trophäen.

Heute sind die Berge ein Präventiv-Zentrum gegen Burnout-Symptome. Gestresste Großstädter pilgern von München nach Venedig auf der Suche nach Ruhe, Weite und dem verloren geglaubten Sinn des Lebens. Die Berge, so die Hoffnung, zeigen, uns wer wir sind. 

Auch bei mir war das schon immer so: War ich verloren, bin ich ab in die Berge. Nie habe ich mich so lebendig und so sehr mit mir verbunden gefühlt wie dort. Insofern ist es auch eine Reise zu mir selbst. Ich möchte herausfinden: Was ist dran an dem Mythos? Zeigen uns die Berge wirklich, wer wir sind? 

In Pauli Trenkwalder habe ich den besten Begleiter für so ein Unterfangen gefunden. Als Bergführer und Psychologe legt er ratsuchende Klienten nicht auf die Couch, sondern geht mit ihnen in die Dolomiten. Schwere Entscheidungen, Stress im Job, Beziehungsprobleme – die Themen sind vielfältig. Pauli ist Experte dafür, was passiert, wenn Mensch und Berg aufeinander treffen. Von ihm lasse ich mich gerne an die Hand nehmen. Oder besser ans Seil. Denn Pauli schlägt vor, einen der Sellatürme zu besteigen. Wir nehmen den leichtesten, eine Anfängertour. Obwohl ich Jahre nicht geklettert bin, spüre ich dass es eine gute Wahl ist und sage zu. Wie sehr es mich verändern wird, ahne ich nicht.

Pauli Trenkwalder und Jana Schubert Pauli Trenkwalder und Jana Schubert

„Ich führe Menschen nicht an Abgründe. Ich lasse die Berge Türen in ihnen öffnen.“

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7:00 Uhr morgens. Die Sellapassstraße liegt leer und verlassen. Bald wird das Dröhnen hunderter Motorräder durch die Luft schneiden, aber noch ist es still. Der Small-Talk, das interessierte gegenseitige Kennenlernen verebbt, als wir langsam durch die Wiese in steinigere Gefilde aufsteigen. Ich fühle mich ehrfürchtig angesichts dieser Landschaft. Es arbeitet schon in mir. „Diese Stille“, sagt Pauli, „spielt mir in die Karten. Am Berg sitzt man sich nicht gegenüber, muss nicht immer sprechen, sich nicht in die Augen sehen“.

Das Licht fällt wie Rauch durch die Felsen. Fette Murmeltiere hocken am Wegesrand, weiter unten entdecken wir Gämse. In dieser Welt sind wir nur Gäste. Ist es das, was die Sehnsucht ausmacht? Der Berg zeigt uns, wer wir sind, indem er uns entlarvt. Als verletzlich, als weiche Konstruktion aus Fleisch und Knochen. Wir gehören hier nicht hin – und trotzdem sind wir ein Teil davon. Es ist diese atemberaubende Welt, die Pauli Trenkwalder aus Schauplatz für seine Arbeit nutzt. „Die Berge therapieren uns nicht, sie heilen niemanden.“, stellt Pauli fest. „Aber sie geben unserer Suche nach Antworten einen Rahmen.“ Und was für einen! Schon die Atmosphäre hier, weit weg vom Lärmen der Welt, tut mir gut. 

Nicht jeder findet hier, was er sucht

Wir legen unsere Kletterausrüstung an und steigen in die Wand ein. Pauli erzählt mir, dass seine Klienten am Berg regelrecht aufblühen. Aber nicht jeder findet in den Bergen, was er sucht. Manche Menschen zieht es ans Meer oder in die Wüste, in die Stadt, den Wald, zum Strand. Wichtig ist, dass die Landschaft etwas mit einem macht, dass man sich wohl fühlt. Und man sich auf die Reise einlassen kann. Aber die, die es in die Berge zieht, nimmt Pauli mit auf Tour. Dabei erleben sie etwas, spüren sich, erreichen Ziele und gehen über ihre Widerstände hinweg.

Die Herausforderung wird zum Schlüsselmoment, in der der Mensch zeigt. Genauso wie er ist. Verletzlich, vielleicht beängstigend, ohne den täglichen Panzer aus. „Das ist ein sehr intensiver Moment, da kommt es auf die Beziehung zwischen mir und meinem Klienten an.“, betont Pauli. Wie ich da in dem Berg hänge, ist mein Schlüsselmoment. Und die Beziehung trägt mich. Wir sind im buchstäblichen Sinne eine Seilschaft. Ich kann mich fallen lassen. Pauli hat mich am Seil und auch wenn ich es einen Moment vergessen hatte: Ich bin nicht alleine.

„Da links ist ein guter Tritt. Gleich hast du es!“ Paulis Kopf schiebt sich in mein Blickfeld. Ich nehme mich zusammen, schließlich bin hier zum Arbeiten und nicht um therapiert zu werden. Seine Nähe gibt mir Kraft und ich beschließe, dem Halt meines Fußes zu vertrauen. Plötzlich erinnert sich mein Körper und weiß scheinbar wie von selbst, was zu tun ist. Einen Moment später habe ich festen Boden unter den Füßen und kann ein Zittern in den Knien nicht unterdrücken. Geschafft. Ich bin da hochgeklettert! Stolz durchflutet mich. Pauli lächelt wissend.

Talblick beim Bergsteigen

Oben am Gipfel kommen wir zur Ruhe. Schauen, Trinken, Atem schöpfen. Rings um uns Spitzen, Zacken, Steingiganten. Ich bin glücklich, irgendwie ganz. Es ist Selbstwirksamkeit, die ich erlebe, meint Pauli. Und noch mehr. Ich erinnere mich wieder. Daran, wozu ich fähig bin und was mir wichtig ist. Für mich war das genau die richtige Erfahrung. Trotzdem geht es in Paulis Arbeit nicht immer darum, den Gipfel zu erreichen. „Viele Menschen sind zu fokussiert, dass sie nicht mehr links und rechts schauen. Sie kennen nur noch schwarz oder weiß. Das dürfen sie dann loslassen. Ihnen zeigt der Berg, wie viele Facetten das Leben hat. Die Berge lehren uns Demut, weil wir sie nicht kontrollieren können. Sie sind einfach zu groß.“ Während wir uns abseilen und den Heimweg antreten, wird mir klar, was Pauli mit den Bergen als hilfreichen Rahmen gemeint hat. Die Berge heilen uns nicht, sie helfen uns, zu erkennen. Uns selber zu erkennen. Alles ist bereits in uns, wir dürfen nur lernen und uns trauen, hinzuschauen.

„Manchmal muss man das Ziel loslassen, um anzukommen.“

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Bergsteigen Panoramablick

Erst Tage später begreife ich, was die Erfahrung in mir bewirkt hat. Facetten von mir, die ich lange nicht mehr gelebt habe, kommen wieder an die Oberfläche. Ich erkenne, dass ich eigentlich viel stärker bin als mein Alltags-Ich. Wieviel Energie ich in mir trage, habe ich erst wieder erlebt, als ich erschöpft auf dem Gipfel saß. „Manche sagen, der Gipfel ist das Ziel. Andere, der Weg ist das Ziel. In meiner Arbeit dagegen ist oftmals das Ziel im Weg. Manchmal muss man das Ziel loslassen, um anzukommen“ – wie recht Pauli hat.

Für mich war dieser Tag tatsächlich eine Wanderung zu mir. Vieles erkenne ich nun klarer: Zu suchen und zu finden, vor Hindernissen zu stehen und darüber hinauszuwachsen. Fragen zu stellen und vielleicht Antworten zu finden. Dafür braucht es ein Gegenüber, zu dem wir uns in Beziehung setzen können: Die stumme Gegenwart der Berge. Und manchmal einen Menschen wie Pauli Trenkwalder, der uns ans Seil nimmt, wenn wir meinen zu fallen.

Marie-Theres Rüttiger
HIER SCHREIBT Marie-Theres Rüttiger

Marie-Theres ist Online Redakteurin für Gesundheits- und Versicherungsthemen bei ottonova. Sie konzipiert den Redaktionsplan, recherchiert und schreibt vor allem über (E-)Health und Innovation, die das Leben besser machen. 

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