Resilienz – warum einige an Krisen wachsen und andere daran zerbrechen​

Ob Rettungsassistent oder gescheiterter Gründer – jeder kennt sie, diese Menschen, die nichts umhauen kann. Was ist ihr Geheimnis? ottonova auf der Spur der psychischen Widerstandskraft, dem Schutzschild der Seele.

Medizinisch geprüft - Siegel
FACHLICH GEPRÜFT von Psychologin Sophie Schürmann

Inhalt des Ratgebers

Jeder Mensch wird in seinem Leben mit Krisen konfrontiert. Persönliche Niederlagen, Jobverlust, Krankheiten, Unfälle: Der Forschung war lange Zeit unklar, warum manche besser mit solchen Situationen umgehen können als andere. Warum der eine neue Perspektiven erkennt, während der andere in ein tiefes Loch fällt. 

Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen zumeist die Abgründe der Seele, die ganze Klaviatur der psychischen Krankheiten. Doch nach und nach begann sich die Welt für jene zu interessieren, die allen Widrigkeiten zum Trotz ein gutes Leben führen. Es scheint da eine geheime Kraft zu geben, die manche Menschen Krisen meistern lässt, an denen andere zerbrechen. Die Positive Psychologie entlehnte für diese Fähigkeit ein Wort aus der Physik: Resilienz.

Definition Resilienz

  • Die Fähigkeit eines Menschen, Systems oder Gegenstandes nach einer Belastung wieder in die ursprüngliche Form zurückzukehren.
  • In der Psychologie ist die seelische Widerstandsfähigkeit gemeint – Krisen zu meistern, ohne dauerhaften Schaden davonzutragen.
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Nun haben wir einen Fachbegriff für Christians erstaunliche Fähigkeit. Das lateinische resilire bedeutet zurückspringen. Und das trifft es ganz gut.

Es geht um Stehaufmännchen-Qualitäten. Man war aus der Spur. Logisch, denn Katastrophen, Unfälle, Krankheit, Scheitern und Tod lassen niemanden unberührt. Aber irgendwie schaffen es resiliente Menschen wie Christian, wieder zurückzuspringen. Zurück in ihr Leben.

Resilienz – Was die Forschung sagt

Tatsächlich verfügen resiliente Menschen über bestimmte Eigenschaften und Strategien, die ihnen helfen, mit Krisen umzugehen. Fragt man sie danach, wissen die meisten nicht so genau, wie sie das machen.

Eine Herausforderung für die Wissenschaft: Seit den 1950er Jahren versuchen Psychologen, Mediziner und Neurowissenschaftler dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Seit 2014 auch in Deutschland, am europaweit ersten Resilienz-Zentrum an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Die recht junge Resilienzforschung nimmt insbesondere die drei Bereiche Umfeld, Neurobiologie und (Epi-)genetik unter die Lupe.

Umfeld: Resilienz wächst in Beziehungen.


Die hawaiianische Insel Kauai - ein Paradies mit sozialen Brennpunkten.

Auf der hawaianischen Insel Kauai verfolgte die amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner 1955 den Lebensweg von 700 Neugeborenen bis ins Erwachsenenalter. Die Startbedingungen für einen Teil dieser Kinder waren denkbar schlecht – Armut, Gewalt und Alkoholmissbrauch waren an der Tagesordnung.

Zwei Drittel dieser Gruppe scheiterten wie ihre Eltern an Alkohol und Kriminalität. Ein Drittel der Risikokinder hingegen entwickelte sich ausgesprochen positiv. Sie machten Schulabschlüsse, gingen tragfähige Ehen ein und waren psychisch gesund. Es schien so, als wären sie auf magische Weise immun gegen die Widrigkeiten ihrer Realität. Werner entdeckte den entscheidenden Unterschied: Sie hatten mindestens eine enge Bezugsperson, egal ob eine Tante, ein Nachbar oder ein Lehrer.

Kinder, denen die Ansprache, körperliche Zuwendung und menschliche Wärme fehlt, kämpfen häufig mit einer seelischen Instabilität. Die ersten Lebensjahre sind entscheidend, um Selbstvertrauen und Optimismus zu entwickeln – und das geht nur mit einer verlässlichen Bindung an einen anderen Menschen.

Neurobiologie Resilienz Unter der harten Hirnschale liegen fragile Strukturen, die unsere Persönlichkeit formen.

Neurobiologie: Resilienz lässt sich messen.

„PENG!“ – ein lauter Knall hallt durch den Raum. Alle Probanden zucken zusammen und schließen reflexartig die Augen. Allerdings nicht alle gleich lang. Experimente wie diese sollen die neurobiologische Komponente der Resilienz offenlegen. Denn die Länge der Schreckreaktion schlägt sich in den Strukturen des Gehirns nieder. Und genau dort suchen Wissenschaftler nach Erklärungen für die psychische Widerstandskraft.

Wenig resiliente Menschen können das Stress-Hormon Cortisol schlechter verarbeiten. Entspanntere Zeitgenossen verfügen erwiesenermaßen über einen präfrontalen Cortex, der auf der linken Seite aktiver ist als auf der rechten. Auch ein voll ausgebildeter Hippocampus gibt Hinweise auf psychische Stärke. Einen eher kleinen Hippocampus findet man bei Opfern von Kindesmissbrauch und Menschen mit schwerem Trauma.

Die große Frage ist daher: Sind die Gehirnstrukturen die Ursache oder die Folge der seelischen Verletzbarkeit? Werden resiliente Menschen mit einem größeren Hippocampus geboren oder erwerben sie ihn im Laufe ihres Lebens? Das Gehirn entwickelt sich unter dem Einfluss unserer Umwelt. Negative Erlebnisse könnten sich somit direkt auf den Bauplan des Gehirns auswirken und somit auch die spätere Resilienz beeinflussen.

Genetik Resilienz Liegt der Schlüssel zur Resilienz in der DNA?

(Epi-)genetik: Resilienz ist zu einem kleinen Teil angeboren.

Ein Resilienz-Gen! Das wäre endlich eine handfeste Erklärung für die unterschiedlichen Bewältigungskompetenzen der Menschen. Tatsächlich haben Forscher ein Gen mit dem Namen 5-HTT entdeckt, das eine enorme Auswirkung auf unser Seelenleben hat. Es gibt dieses Gen in zwei Ausprägungen, die sich nur in einem winzigen Stückchen ganz am Ende unterscheiden.

In mehreren Studien wurde belegt, dass Menschen mit der kürzeren Variante des Gens erheblich verletzlicher auf Krisen reagierten als solche, die mit der längeren Variante geboren wurden.

Man ahnt schon, dass es nicht so einfach sein kann. Zum einen sind die Gene nur ein Teil in einem großen Puzzle aus Faktoren. Je nachdem auf welche Umweltbedingungen die Genträger stoßen, kann sich die genetische Anlage völlig anders auswirken. In einem förderlichen Umfeld ohne traumatische Erlebnisse kann ein Kind mit einem kurzen Exemplar von 5-HTT sogar ein besonders starkes psychisches Immunsystem entwickeln.

Dabei spielt die Epigenetik eine entscheidende Rolle. Gene kann man sich wie Schalter vorstellen. Bestimmte Lebensumstände oder -ereignisse können sie an- oder abschalten. Die Umwelt und unser Denken darüber interagieren sozusagen permanent mit dem Erbgut. Eigentlich sind das gute Nachrichten. Die Forschung zeigt, dass niemand qua Geburt zu einem schwachen psychischen Immunsystem verurteilt ist.

Faktoren der Resilienz

Diese Faktoren beeinflussen die Ausbildung der psychischen Widerstandskraft.

Charakter Resilienz
Beziehungen Resilienz
Erziehung Resilienz
Bewältigung Resilienz
Kognitiv Resilienz

Der Rettungsassistent: Plötzlich kollidierten die Welten

Nach so viel Theorie wollten wir mehr darüber erfahren, wie sich Resilienz ganz praktisch im Alltag zeigt. Matthias Schreiber ist einer, der sich damit auskennt. 19 Jahre war er als Rettungsassistent an vorderster Front im Münchener Großstadtdschungel im Einsatz. „Das fordert die eigene Seele heraus“, meint er nachdenklich und berichtet von verzweifelten Müttern, die ihr Baby durch den plötzlichen Kindstod verloren haben und von den Überresten eines Mannes, der aus dem Fenster gestürzt war.

Bei einigen seiner Kollegen beobachtet er, wie sie abstumpfen, verbittern. Irgendwann leisten sie nur noch ihre Zeit ab und verschließen ihr Herz. Dann dauert es nicht mehr lange bis zur Berufsunfähigkeit. Matthias übersteht die Einsätze mit einer Mischung aus Sachlichkeit und Empathie.

Während eines Einsatzes, berichtet er, muss man ganz präsent sein. „Wie viele Verletzte, ist die Situation unter Kontrolle, brauche ich Verstärkung? Alles muss schnell gehen, professionell. Die Verarbeitung kommt dann hinterher.“ Ihm ist wichtig, zu spüren, was der Mensch braucht und es ihm zu geben. Die Augen zu öffnen für die Welt um ihn herum. Seine Motivation Gutes zu tun, hilft ihm über viele traumatisierende Bilder hinweg. Er ist auch dankbar. Dafür, dass es ihm so viel besser geht, als vielen anderen.

„Meine Frau war immer mit im Wagen. Das hat uns beide oft gerettet.“

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So richtig verstanden hat er lange nicht, wie sein ganz persönliches Immunsystem der Psyche arbeitet. Bis es an seine Grenzen stößt. Eines Morgens wird er zu einem Einsatz in das Haus einer jungen Familie gerufen. Den Vater, der ebenfalls Matthias hieß, kann er nicht mehr retten: Ihn reißt ein Herzanfall aus dem Leben.

Matthias tut sein Bestes, um die Ehefrau und ihren 5-jährigen Sohn zu betreuen. „Sie hatten diesen Sohn, genauso alt wie mein eigener. Das Haus, die Lebensumstände - es hätte meine Familie sein können.“ Den Einsatz konnte er lange nicht verarbeiten. Er spricht viel darüber, in der Supervision, mit Kollegen und Familie. Und erkennt: „Ich habe begriffen, dass das meine Taktik war: Ich habe das getrennt. All das Schreckliche während der Einsätze geschah für mich in einer anderen Welt, die aber nichts mit meiner eigentlichen Welt zu tun hatte.“ Bis sie bei diesem Einsatz kollidierten. Wir lernen: Resilienz ist eine Strategie. Nur wo kommt die her?

Resilienz: Kann man sich auf die Schicksalsschläge des Lebens vorbereiten?

Bestimmte Gene, die Struktur unseres Gehirns und positiven Beziehungserfahrungen in der Kindheit - alles Dinge, die wir nicht unmittelbar beeinflussen können. Ist es also Schicksal, ob wir an der nächsten Belastung, die das Leben für uns bereithält, zerbrechen oder wachsen?

Wir haben jemanden gefragt, der es wissen muss: Dipl. Psychologin und Psychotherapeutin Susanne Keck. In ihrer Praxis hilft sie unter anderem Menschen, nach einem Verlust wieder neuen Lebensmut zu finden.

Ihre Botschaft: Resilienz kann man lernen. Und zwar in jedem Alter. „Die meisten Menschen wissen, dass sie ihren Körper mit Vitamin C unterstützen können, wenn sie sich keine Erkältung einfangen wollen. Doch auch das psychische Immunsystem kann man aktiv stärken.“

Aha: Die seelische Widerstandskraft kann man trainieren, wie einen Muskel.

Es geht darum, welchen Sinn man den Dingen gibt, wie man sie integriert und darüber nachdenkt. „Glaube ich mir die Geschichte, dass alles ganz schrecklich ist? Oder erlaube ich mir auch andere Sichtweisen? Wichtig ist nicht, wie es wirklich war, sondern wie ich mich entscheide, darüber nachzudenken“, erfahren wir. Ist dann eine Krise für resiliente Menschen weniger schrecklich? Nein.

„Eine gute Verarbeitung heißt nicht, dass ich keine Gefühle wie Wut oder Trauer empfinde“, stellt Keck klar. Denn Gefühle sind ganz normal. Wichtig ist, einen guten Umgang mit ihnen zu lernen und sich nicht von ihnen kontrollieren zu lassen. Keck warnt vor Pessimismus und Verbitterung und rät zu mehr Dankbarkeit im Leben. Dinge, die wir schon von Matthias Schreiber gehört haben. Er hat sie wohl intuitiv richtig gemacht.

Sieben Säulen der Resilienz

Die Psychologie hat sieben entscheidende Säulen identifiziert, auf denen Menschen wie Christian ihre Resilienz aufbauen:

Klingt ja nicht schlecht. Wenn man all das macht, kann einen nichts mehr ins Wanken bringen? Ganz so ist es auch nicht, erfahren wir. Resilienz ist keine Fähigkeit, die man einmal erwirbt und dann für immer im Repertoire hat. Sie wandelt sich und steht uns ja nach Situation in größerem oder kleineren Maße zur Verfügung.

Jemand, der einen Jobverlust wegsteckt, kann an einer Krankheit verzweifeln und umgekehrt. „Wie schwer etwa ein Verlust einen Menschen trifft, hängt von seiner Persönlichkeit ab, aber auch von der Art des Verlustes. Ist es der Partner? Oder ein entfernter Verwandter? War es bereits der zweite oder dritte Verlust im Leben? All das spielt eine Rolle“, erklärt die Psychologin. Resilienz bedeutet also Arbeit. Zum Abschluss gibt uns Susanne Keck noch konkrete Tipps und Handlungsempfehlungen, für alle, die mehr Resilienz wollen.

Resilienz: So stärkst du dein seelisches Immunsystem

  1. Lasse schmerzliche Gefühle zu, auch im Alltag.

    Wenn schlimme Dinge geschehen, werden wir mit Angst, Hilflosigkeit, Wut und Trauer konfrontiert. Manchmal kommen diese Gefühle erst später, wenn Schock und Erstarrung langsam weichen. Dann ist es wichtig, diese Gefühle anzunehmen und ihnen Raum zu geben. Es gibt keinen Weg drum herum, die Gefühle wollen gefühlt werden. Sei dir selbst ein liebevoller Begleiter in dieser Zeit und vertraue drauf, dass du von dem Sturm nicht „geschluckt“ wirst. Alkohol und alles, was Gefühle betäubt ist ein Garant dafür, dass die Bearbeitung länger dauert!

  2. Führe ein Dankbarkeitstagebuch und konzentriere dich so ganz bewusst auf die positiven Dinge in deinem Leben.

    Es ist unmöglich, gleichzeitig dankbar und unglücklich zu sein. Finde täglich drei Dinge, für die du dankbar sein kannst. Dabei hilft eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis, zum Beipiel durch Yoga oder Meditation. Dadurch lernst du außerdem, eine Beobachterposition einzunehmen und dich von Gefühlen und Umständen nicht mitreißen zu lassen. Dann kannst du sagen: „Aha, da ist Verzweiflung und Angst, aber ich bin nicht mittendrin.“ So schaffst du dir wieder einen Handlungsspielraum, der wichtig ist, um Probleme aktiv anzugehen.

  3. Begreife den Alltag als Trainingsfeld, um im Härtefall zu bestehen.

    Wer sich in guten Zeiten vorbereitet, kann in einer Krise leicht auf seine Fähigkeiten zurückgreifen. Steckst du hingegen schon tief im Loch, ist es ungleich schwerer, dir Dinge wie Achtsamkeit, einen guten Umgang mit Gefühlen oder Dankbarkeit beizubringen. Dazu gehört auch, dein tägliches Stress-Level unter Kontrolle zu halten. Wen schon der Alltag an seine Grenzen bringt, der hat einer Krise wenig entgegenzusetzen.

Fazit

Wir haben mit vielen verschiedenen Menschen über Resilienz gesprochen. Über Faktoren, psychologische Strategien und unser Gehirn. Bleibt die Frage vom Anfang: Wie kommt es, dass Timo an dem Autounfall zerbricht und Christian nicht?

Vielleicht hatte Timo eine harte Kindheit, vielleicht die falschen Gene oder eine unvorteilhafte Hirnstruktur. Jeder hat andere Grundveranlagungen. Wir haben aber gesehen: Resilienz ist, was du daraus machst. Wir können die schmerzhaften, schrecklichen Dinge in unserem Leben nicht verhindern. Wir haben es jedoch bis zu einem gewissen Grad selbst in der Hand, wie wir damit umgehen, darüber nachdenken. Und dieser Gedanke gefällt uns ziemlich gut.

Sophie Schürmann
HIER SCHREIBT Sophie Schürmann

Sophie ist Psychologin und Digital Health Enthusiastin. Nach ihrem Master in Business Psychology und verschiedenen Stationen in der Forschung und in der freien Wirtschaft, gründete sie gemeinsam mit Julia Maria Rüttgers und Maximilian Kirschning das Health Start-ups peers. peers. ist eine digitale Plattform, die Menschen den Zugang zu professioneller psychologischer Unterstützung vereinfachen möchte. In Gruppensitzungen werden Menschen in ähnlichen Lebenssituationen mit ähnlichen Hürden unter der Anleitung von Psychologen und Psychologinnen zusammengebracht. Die Inhalte und exklusive Lernmaterialien, die zur Verfügung gestellt werden, basieren auf der kognitiven Verhaltenstherapie.

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