Gendermedizin: Warum sind Frauen und Männer anders krank?

Welche Frau kennt es nicht: Das Handydisplay ist zu groß, es gibt zu wenig Toiletten, der Sicherheitsgurt drückt an der Brust. Warum? Der Mann ist noch immer Standard in der Forschung, auch in der Medizin. Was ist Gendermedizin? Und wie können alle von einem geschlechtersensiblen Ansatz profitieren? Das und mehr erklärt Dr. Ute Seeland.

Inhalt des Ratgebers

Gendermedizin - kurzer Überblick:

  • In der medizinischen Forschung wurden lange Zeit Männer als Standard herangezogen, was dazu führte, dass Frauen und geschlechtsspezifische Unterschiede oft nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Dies beeinflusst die Erkennung und Behandlung von Krankheiten bei Frauen negativ.
  • Frauen haben ein höheres Risiko für bestimmte Erkrankungen, wie Autoimmunerkrankungen oder Depressionen, und reagieren anders auf Medikamente und Therapien. Gendermedizin erforscht diese Unterschiede und entwickelt geschlechterspezifische Behandlungsansätze.
  • Geschlecht beeinflusst nicht nur biologisch, sondern auch soziokulturell das Gesundheitsverhalten und Krankheitsrisiken. Daher ist eine geschlechtersensible Forschung und Versorgung essenziell, um eine bessere medizinische Betreuung für alle Geschlechter zu gewährleisten.

Gendermedizin: Warum Frauen in der Forschung oft übersehen werden

„Wenn man die Bevölkerung fragt denkt man: Natürlich handeln Ärzte und Ärztinnen danach, ob man eine Frau oder einen Mann vor sich hat, das ist doch selbstverständlich – nein das ist aktuell absolut nicht selbstverständlich“, sagt Dr. Ute Seeland von der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin.

Das ist absurd, denn tatsächliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern gäbe es nicht nur auf biologischer, sondern auch auf soziokultureller Ebene. Lange wurde der Mann als Standard in der medizinischen Forschung herangezogen, sei es in Medikamentenstudien oder Studien zu Krankheiten. 

Was ist Gendermedizin?

Gendermedizin ist ein Fachgebiet der Medizin, das sich mit den Unterschieden zwischen Männern und Frauen in Bezug auf Gesundheit und Krankheit befasst. Gendermediziner untersuchen, wie sich Geschlechtshormone, die Geschlechtsidentität und die Geschlechterrollen auf die Gesundheit auswirken. Sie entwickeln und evaluieren auch neue Therapien und Präventionsmaßnahmen für Frauen und Männer.

Bei der Gendermedizin geht es um biologische Geschlechterunterschiede (Geschlechtschromosomen, Hormone, Stoffwechsel, etc.) und deren Einfluss auf Gesundheit und Krankheit. Dieses alleine reicht nicht aus, denn gerade die Interaktion mit den sozialen, psychischen, gesellschaftlichen und Umweltfaktoren auf Entstehung, Verlauf, Behandlung und Prävention erweitert den Blick für Ursachen und trägt dazu bei, die Vielfalt der Spielarten einer Erkrankung zu verstehen. Geschlecht meint dabei also nicht nur das biologische (sex), sondern auch das psychosoziale (gender) Geschlecht.

Warum braucht es Gendermedizin?

Die Kardiologie ist ein gutes Beispiel der Unterschiede: Bei jungen Frauen werden Herzinfarkte beispielsweise sehr viel seltener erkannt als bei Männern. Die typischen Symptome wie Brust- oder Armschmerzen bei Männern lassen sich nicht 1:1 auf Frauenkörper übertragen, gelten aber noch immer weithin als Goldstandard der Erkennungszeichen. Aber auf diesem Forschungsgebiet tut sich einiges: Die europäische Gesellschaft für Kardiologie hat nun zum ersten Mal eine Leitlinie herausgegebenen, in der das Wort Frau vorkommt und ein Kapitel über Geschlechterunterschiede enthält. Insbesondere bei der Koronaren Herzerkrankung und bei Herzinsuffizienz müssen geschlechterspezifische Aspekte beachtet werden.

„Die Biologie und Medizin verstehen langsam, dass das Geschlecht einen großen Einfluss auf Krankheit und Gesundheit hat.“

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Auch sind die Nebenwirkungen von Medikamenten bei Frauen um 30 Prozent höher als bei Männern. Das liegt daran, dass 70 bis 80 Prozent der Proband*innen und auch der Versuchstiere männlich sind. Trotzdem werde medizinisches Wissen gleichermaßen für Frauen und Männer – also geschlechterneutral – in der Therapie eingesetzt und auch im Alltag angewandt. „Man kann wirklich sagen, dass 50 Prozent der Menschen nicht adäquat dargestellt wurden in der Forschung bisher“, meint Dr. Seeland.

Wenn einige jetzt einwenden wollen, dass Männer eine kürzere Lebenserwartung haben, stimmt das. Männer haben aber anteilsmäßig mehr gesunde Lebensjahre als Frauen. Die kürzere Lebenserwartung liegt zum einen am Gesundheitsverhalten (etwa mehr Tabak, Alkohol, etc.) aber auch am Präventionsverhalten, das soziokulturell bestimmt ist. Die noch immer patriarchalische Gesellschaft vermittelt sehr stereotypisch: Männer sind stark, Männer werden nicht krank, Männer müssen nicht zum Arzt. Dies weicht sich aber glücklicherweise immer weiter auf.

Das Ziel der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V. (DGesGM®) und der Gendermedizin ist es, die medizinische Versorgung und Prävention für alle Geschlechter gleichermaßen zu verbessern. Dafür braucht es Grundlagenforschung aber auch anwendungsbezogene Maßnahmen. Es geht aber auch darum die geschlechterspezifische Forschung auch in anderen Wissenschaftszweigen zu fördern.

 

„Auch wenn die Frauenbewegung ihren Beitrag geleistet hat: Wir sind keine Hardcore-Feministinnen und verfolgen keine Ideologie. Ich bin Wissenschaftlerin!“

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Die geschlechtersensible Medizin ist erstaunlicherweise ein neuer Forschungsansatz. Erst seit etwa 10 Jahren hat sich die geschlechterspezifische Medizin in Deutschland etabliert. In der universitären Lehre werden nach dem Institut für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité Berlin bald weitere folgen. Auf die Frage, warum es den geschlechterspezifischen Ansatz überhaupt brauche, kennt Dr. Seeland nur eine Antwort: Um die Forschung und damit die medizinische Versorgung für alle Geschlechter besser zu machen.

„Weiblich konnotierte Erkrankungen“ wie Autoimmkrankheiten, Osteoporose, rheumatologische Erkrankungen oder Depressionen werden bei Männern wesentlich seltener erkannt als bei Frauen. Hier setzt die Gendermedizin an, damit Therapien zielgruppenspezifischer und damit auch sicherer für alle werden können.

Gender Medizin Ute Seeland Dr. Ute Seeland (© Kathrin Harms)

„Es gibt fast keine Erkrankung, wo wir keine Unterschiede finden.“

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Zum Beispiel unterscheide sich auch das Schmerzempfinden und die Reaktionen unter den Geschlechtern. Eine paritäre Einbeziehung von 50 Prozent männlichen und weiblichen Versuchstieren bzw. von Männern und Frauen in medizinische Studien, wäre ein erster Hebel.

Einfluss des Geschlechts auf Krankheitsrisiken: Welche Rolle spielt es?

Männer und Frauen haben unterschiedliche Anfälligkeiten für bestimmte Krankheiten, oft aus biologischen Gründen. Ein Beispiel: Frauen haben aufgrund ihrer kürzeren Harnröhre ein erhöhtes Risiko für Blasenentzündungen, da Bakterien leichter die Blase erreichen können.

Doch auch bei ernsteren Krankheiten unterscheiden sich die Risiken. Früher waren Männer häufiger von Lungenkrebs betroffen, was vor allem auf ihren höheren Zigarettenkonsum zurückzuführen war. Heute rauchen Frauen fast genauso oft wie Männer, doch ihr Risiko für Lungenerkrankungen ist höher. Es wird vermutet, dass Zigaretten bei Frauen gesundheitsschädlicher wirken, und das weibliche Hormon Östrogen kann das Risiko für Lungen- und Brustkrebs zusätzlich erhöhen. Auch bei Rheuma erkranken Frauen häufiger und leiden oft unter schwereren Symptomen als Männer. Die gute Nachricht ist, dass die Behandlung von rheumatoider Arthritis stetig verbessert wird, und es wird intensiv an geschlechtsspezifischen Therapien geforscht.

Was Darmkrankheiten betrifft, können beide Geschlechter betroffen sein, jedoch zeigen sich unterschiedliche Muster: Männer erkranken häufiger an Darmkrebs, während Frauen häufiger am Reizdarmsyndrom leiden. Dies wurde lange Zeit auf unterschiedliche Ernährungsgewohnheiten und Lebensweisen zurückgeführt, doch mittlerweile weiß man, dass auch geschlechtsspezifische Unterschiede in der Darmflora eine Rolle spielen. Zudem produzieren Frauen weniger Magensäure, was ihre Verdauung beeinflusst. Die Forschung zur Darmgesundheit in Bezug auf Geschlechterunterschiede steckt jedoch noch in den Anfängen, und in den kommenden Jahren wird man sicherlich weitere Erkenntnisse gewinnen.

Brustkrebs ist die häufigste Krebserkrankung bei Frauen, jedes Jahr erhalten etwa 70.000 Frauen in Deutschland diese Diagnose. Weniger bekannt ist, dass auch Männer an Brustkrebs erkranken können – etwa 750 Männer sind in Deutschland jährlich davon betroffen. Zudem werden Essstörungen, die früher als „typisch weibliche“ Erkrankungen galten, zunehmend auch bei Männern diagnostiziert.

Wo setzt zielgruppenspezifische Medizin an?

Weiblichkeit oder Männlichkeit setzt sich aus Sicht der geschlechtersensiblen Forschung aus verschiedenen Einflussfaktoren zusammen. Diese bestehen aus:

  • genetischem Geschlecht (Geschlechtschromosomen)
  • gonadalem Geschlecht (Ausbildung der Keimdrüsen)
  • genitalem Geschlecht (äußere Geschlechtsmerkmale)
  • psychischem Geschlecht (sexuelle Selbstidentifikation)
  • sozialem Geschlecht (soziale Rollenzuweisung)

Aber nicht nur das Geschlecht (sex und gender) wird als wichtiger Einflussfaktor auf Gesundheit und Krankheit erkannt, auch Diversität gerät in den Blickpunkt der Forschung.

Ebenso werden ökonomische Verhältnisse, soziale Herkunft und die Auswirkungen der gesellschaftlich zugewiesenen Rollen immer mehr in die medizinische Forschung miteinbezogen, da sie relevante Einflussfaktoren für Krankheiten sind.

Dass das Alter ein großer Einflussfaktor ist, wurde schon früher in der Forschung erkannt. Das sei sehr wichtig, meint die Fachärztin für innere Medizin, denn Frauen etwa seien im Laufe ihres Lebens starken körperlichen Veränderungen unterworfen.

„Das Geschlecht in Kombination mit dem Alter ist vor allem bei Frauen extrem wichtig, weil es im Prinzip vier Arten von „Frau-Sein“ gibt: Prämenopause, Perimenopause, Postmenopause und Schwangerschaft.

Corona und Gendermedizin

In der gegenwärtigen Pandemie sind noch mehr Unterschiede zwischen den Geschlechtern deutlich geworden. Diese haben sowohl einen biologischen als auch einen soziokulturellen Hintergrund.

Bezogen auf die Biologie seien die Männer mit einem schwereren Verlauf der Erkrankung und den höheren Sterberaten im Krankenhaus weltweit benachteiligt, aber bezogen auf die soziale Situation seien es die Kinder und Frauen, die unter den Bedingungen der Corona-Krise und des Lockdowns deutlich mehr leiden, sagte Dr. Ute Seeland im Interview.

Frauen haben zwar ein niedrigeres Risiko für schwerere Verläufe bei Infektionen, allerdings sind sie von negativen ökonomischen und sozialen Auswirkungen der Pandemie langfristig heftiger betroffen. Auch scheinen die Long-Covid Verläufe mit dem Hauptsymptom der Fatique häufiger Frauen zu betreffen. „Diese abnorme Müdigkeit, die nicht durch Schlafmangel hervorgerufen wird, wirkt sich zusätzlich negativ auf die Lebenswelt der Frauen und, wenn vorhanden, der Kinder aus.“

Politische Entscheidungen in Zeiten der Pandemie zu treffen, ist eine große Herausforderung, keine Frage. Entscheidungen, die über einen kürzeren Zeitraum zu einer deutlichen Einschränkung oder Mehrbelastung führen, haben das Ziel, die Fortschreitung der Pandemie zu verhindern. Es sei aber zu beobachten, dass diese Mehrbelastung durch gleichzeitige Kinderbetreuung, Homeschooling und Erwerbsarbeit vor allem Frauen betreffe. Auch Kinder leiden psychisch besonders unter der aktuellen Situation wie Studien zeigen. Konzepte zur Schulöffnung sind auf dem Weg und sollten weiter verbessert werden, um eine stabile Situation von psychosozialer und körperlicher Gesundheit zu erreichen.

„COVID-19 benachteiligt beide Geschlechter!“

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Fehlende Datengrundlage zu Corona & Geschlecht

Da die Datengrundlage zu COVID-19 in Bezug auf die geschlechtersensible Betrachtung nicht ausreichend war, hat Ute Seeland selbst zum Thema geforscht.

Die Forscher*innengruppe rund um die Fachärztin für innere Medizin fragte sich: Welche Wechselbeziehungen zwischen sex und gender könnten die Ursache dafür sein, dass die Geschlechter unterschiedlich auf COVID-19 reagieren? Dazu haben die Wissenschaftler*innen einen großen Datensatz analysiert und zum einen festgestellt, dass Frauen vor der Menopause häufiger eine nachgewiesene SARS-CoV2 Infektion hatten als gleichaltrige Männer. Zum anderen, dass die Männer in jedem Alter häufiger an einer COVID-19 Infektion verstorben sind.

„Frauen haben durch soziokulturelle Einflüsse längere Kontaktzeiten mit anderen Menschen außer Haus. Diese entstehen etwa bei der Unterbringung der Kinder oder am Arbeitsplatz und können damit möglicherweise zu höheren Infektionszahlen führen.“ Es liegt aber auch an biologischen Geschlechterunterschieden.

„Stark verkürzt: Das weibliche Geschlechtshormon Östrogen stabilisiert das Immunsystem und verhindert bei prämenopausalen Frauen eher den befürchteten Interleukin-Sturm, der bei Männern beobachtet wird, die schwer erkrankt sind und häufig zum Tod führt“, sagt die Wissenschaftlerin.

Die Reaktion des Immunsystems und die Wirkungen der Sexualhormone auf viele Organfunktionen sind Gegenstand der geschlechtersensiblen Forschung bei der COVID-Erkrankung. Bekannt ist zum Beispiel auch, dass Frauen nach Impfungen mit einer stärkeren Antikörperproduktion reagieren als Männer.

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Wer ist Dr. med. Ute Seeland?

Dr. Ute Seeland ist Fachärztin für Innere Medizin und habilitiert an der Charité-Universitätsmedizin Berlin im Bereich der geschlechtersensiblen Medizin. Ihre wissenschaftlichen und klinischen Schwerpunkte liegen in der kardiovaskulären Forschung, der Präventiv- und Versorgungsforschung und in der Lehrforschung. Im Sommersemester 2021 wird sie als Gastprofessorin an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz die geschlechtersensible Medizin lehren. Sie ist anerkannte GendermedizinerinDGesGM® der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V..

Abgesehen von der medizinischen Forschung und Versorgung müssen auch in anderen Bereichen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in den Blick genommen werden. „Alle Disziplinen sollten sich mit der geschlechtersensiblen Denkweise beschäftigen und ihre Lehrenden schulen“, meint Dr. Seeland dazu. Denn es brauche in jedem Forschungsbereich eine geschlechterspezifische Datenbasis, um Innovationen auf die Bedürfnisse aller Menschen abstimmen zu können.

„Natürlich ist die neue Generation auch anders erzogen und entwickelt sich weiter, aber die gläsernen Decken gibt es und an die stößt man meistens erst dann, wenn man eine eigene Familie gründet und sein eigenes Geld verdient.“

Abschließend lässt sich feststellen, dass es noch keine echte Parität gibt. Aber Schritte in die richtige Richtung sind gemacht und zeigen einen Weg in eine gerechtere Zukunft auf.

Marie-Theres Rüttiger
HIER SCHREIBT Marie-Theres Rüttiger

Marie-Theres ist Online Redakteurin für Gesundheits- und Versicherungsthemen bei ottonova. Sie konzipiert den Redaktionsplan, recherchiert und schreibt vor allem über (E-)Health und Innovation, die das Leben besser machen.

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