Interview: Natural Soul Sports – Mehr als spazieren gehen
Nach über einem Jahr Pandemie haben sicher einige festgestellt: Spazieren gehen hat etwas Selbsttherapeutisches. Wieso ist das so? Wie viel Bewegung brauche ich in der Natur, damit sie einen positiven Effekt hat? Darüber haben wir mit Psychiater Dr. Karsten Wolf gesprochen, der das Konzept des Natural Soul Sports für die private Akutklinik Schloss Gracht mitentwickelt hat.
Was ist Natural Soul Sports?
Natural Soul Sports ist ein wissenschaftliches Konzept zur Sport- und Bewegungstherapie bei Stressfolgeerkrankungen, bei dem unter anderem die positiven Effekte von Bewegung und Naturerfahrung zum Tragen kommen. Es wurde von Dr. Karsten Wolf in Zusammenarbeit mit Experten der Sporthochschule Köln und des Olympiastützpunktes Rheinland entwickelt.
ottonova:
Natural Soul Sports ist ja mehr als Spazieren in der Natur: aber was ist das Besondere? Und was hat bei anderen Therapiekonzepten gefehlt?
Dr. Karsten Wolf:
Bis dato arbeiten Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie sehr stark rational kognitiv. Das hat mit dem europäischen Denken zu tun, speziell mit dem deutschen, das sehr rational ist. Wir denken gemeinsam mit den Patient*innen über Dinge nach, und das war es dann auch. Dadurch haben wir den Körper vergessen.
Aber nur den Körper, nur das Hier und Jetzt zu berücksichtigen, wie es Esoteriker für sich vereinnahmt haben, ergibt natürlich auch keinen Sinn. Wir brauchen beides und haben uns in der Klinik daher auf Grundlage der Präsenztherapie von Hans Ulrich Gumbrecht einen wissenschaftlich sauberen und historisch gut begründeten Ansatz zunutze gemacht.
Die Idee hinter dem Konzept ist letztendlich, dass wir neben den Möglichkeiten des Rationalen, die wir mittlerweile gut verstanden haben, auch den Körper in die Psychotherapie integrieren können.
Also, dass wir zum Gesundsein natürlich auch das Körperliche, die Zwischenleiblichkeit, die reale Berührung zwischen Körper und Körper brauchen.
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Dr. Karsten Wolf
ottonova:
Und diese Körperlichkeit funktioniert am besten in der Natur?
Dr. Karsten Wolf:
Gumbrecht hat etwas sehr Schönes in seiner Theorie formuliert: Für ein gesundes Leben gibt es etwas Wichtiges, das über die Zwischenleiblichkeit (Körper, Körper) hinausgeht – nämlich das metabolische Verhältnis zur Welt.
Das ist ein neuer Gedanke, den die Präsenztherapie uns bietet, wenngleich viele Studien schon gezeigt haben: Je mehr ich mich draußen im Grünen aufhalte, desto weniger psychische Erkrankungen habe ich.
Exkurs: „Dass sich der Lebensmittelpunkt der modernen Gesellschaft fast ausschließlich in Innenräume verlagert hat, ist ein Nährboden für Stress und kann Stressfolgeerkrankungen begünstigen“, erklärt Dr. Karsten Wolf. Wald und Grün stimulieren Mitteleuropäer besonders gut. Aber was machen Tibeter oder Menschen, die in der Wüste leben? Studien lassen darauf schließen, dass wir womöglich genetisch so kodiert sind, dass wir auf bestimmte reale Areale, bestimmte Umgebungen ansprechen.
Dass die Natur uns beruhigt, ergibt evolutionsbiologisch viel Sinn. Wir wissen aus Japan vom Waldbaden, dass es einen unmittelbaren physiologischen Effekt auf das Gehirn hat. Das Ganze machen auch wir uns in unserem Therapiekonzept zu Nutze.
Was ist Waldbaden?
Das Waldbaden als hochwirksame Form des Naturerlebens hat seinen Ursprung in Japan. Der Begriff geht auf die japanische Bezeichnung „Shinrin Yoku“ zurück und meint die Aufnahme der Atmosphäre des Waldes. Ein Waldbad zeigt schon nach 15 bis 20 Minuten einen signifikanten physiologischen Entspannungseffekt. „Für die Erfahrung des Waldbads empfehle ich eine Kombination aus körperlich fordernder Bewegung und Phasen mit achtsamer Ruhe mitten in der Natur, möglichst mehrphasig“, erklärt Dr. Karsten Wolf.
Bei uns kommt aber noch die Bewegung als Element hinzu; wir versuchen also, Gehirn, Natur und Bewegung zusammenzubringen.
ottonova:
Wir sind ja biologisch eigentlich noch in der Steinzeit verankert, und uns fehlt im Alltag oft Bewegung, weil wir nicht alle körperlich arbeiten, sondern viele am Schreibtisch sitzen. Das kann sich also negativ auf die psychische Gesundheit auswirken?
Dr. Karsten Wolf:
Ja, auf jeden Fall. Die Studienlage ist hier auch extrem gut.
Wir sehen eindeutig, dass sportliche Betätigung, die der Betätigung in der Steinzeit ungefähr entspricht, einen Gesundheitseffekt auf Körper, Geist und Psyche hat.
Man bedenke auch, dass die Krebsrate um bis zu 42 % geringer bei Menschen ist, die Sport treiben, und das Demenzrisiko um 88 % sinkt – das ist gigantisch.
Wenn man dafür sorgt, dass junge Menschen von klein auf Sport treiben und ihr Leben lang beim Sport bleiben, und vielleicht sogar Sport und Natur noch kombinieren, dann hat man nicht nur Effekte auf die psychische Gesundheit, sondern auch auf die körperliche Gesundheit. Wie heißt es so schön: „In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist.“
Gerade jetzt, während der Coronapandemie, sollten wir als Gesellschaft darauf hinarbeiten, dass die Menschen wieder nach draußen gehen und Sport treiben können.
ottonova:
Das heißt, Sport wirkt als Prävention genauso wie als Therapeutikum?
Dr. Karsten Wolf:
Ja, beides. Die Studienlage ist ja vollkommen klar. Eine Metaanalyse von Schuch hat gezeigt, dass Menschen, die regelmäßig Ausdauersport in einem gesunden Bereich treiben, ein vier- bis fünffach verringertes Risiko haben, psychisch zu erkranken.
Gleichzeitig kann ich Sport als Therapeutikum bei psychischen Erkrankungen einsetzen. Gut erforscht hat man es für die Depression und die Schizophrenie. Bei der Depression ist klar, dass Sporttherapie genauso gut wirkt wie Medikamente oder Psychotherapie.
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ottonova:
Was bedeutet Sport im gesunden Bereich, haben Sie da konkrete Tipps?
Dr. Karsten Wolf:
Einige Patient*innen, vor allem Manager*innen, kommen zu uns in die Klinik und sagen: Sie würden ja die ganze Zeit Ausdauersport treiben. Sie würden dreimal die Woche 10 Kilometer laufen gehen. Und wenn man sie dann leistungsdiagnostisch misst, dann sieht man, dass sie es komplett übertreiben. Sie kommen gestresst von der Arbeit, wollen einen Ausgleich durch Sport und stressen sich noch zusätzlich.
Wir geben unseren Patient*innen immer den Tipp, zum Sportkardiologen zu gehen und individuell herauszufinden, in welchem Pulsbereich sie sich bewegen sollten, damit es für sie gesund ist. Dieser Bereich, in dem man trainieren sollte, ist individuell doch sehr unterschiedlich, auch wenn es Tabellen gibt, mit denen man sich beispielsweise am Alter orientieren kann.
Training ist kein Wettkampf. Die grobe Faustregel ist, dass man sich 70 % der Zeit, die man trainiert, gerade noch so unterhalten können sollte.
Natürlich soll Sport ab und zu anstrengend sein, aber im Groben sollte man sich die meiste Zeit über in einem ganz bestimmten Bereich bewegen, in dem es nicht wahnsinnig anstrengend ist. Denn auch der Steinzeitmensch ist bei der Jagd nicht permanent gerannt, sondern hat Kräfte gespart, um im Notfall, wenn der Säbelzahntiger kommt, noch Kraft zu haben, um wegzulaufen.
ottonova:
Das bedeutet aber auch, dass wir uns bewusster Zeit für Sport nehmen müssen und uns nicht in kurzer Zeit an die Grenze bringen, damit die Sporteinheit noch in die Mittagspause passt?
Dr. Karsten Wolf:
Ja, dabei ist aber auch ganz wichtig, dass ich, während ich Sport treibe, nicht komplett an die Arbeit denke oder an das, was mich gestresst hat. Ich muss dafür sorgen, dass ich wirklich abschalte, dass ich in einen eigenen Flow komme. Und nur dann ist es Ausgleich.
Und dann kommt die Ernährung dazu. Auch hier darf ich mich selbst nicht stressen, indem ich nur Kalorien zähle und gucke, dass ich möglichst wenig Kohlenhydrate esse. Das muss alles in einem Bereich sein, in dem ich mit einem inneren Bedürfnis, einer inneren Freude und Lust esse, und nicht mit einem Zwang.
ottonova:
Wäre ein gutes Mittel zum Abschalten, sich vielleicht eine Trainingspartner*in zu suchen oder in der Gruppe Sport zu machen, um auf andere Gedanken zu kommen?
Dr. Karsten Wolf:
Ganz genau. Zum Gruppeneffekt kommt noch der Bindungseffekt dazu. Es ist sehr wahrscheinlich so, dass Sporttherapie in der Gruppe effektiver ist als ohne Gruppe. Das macht evolutionsbiologisch natürlich auch Sinn, weil der Steinzeitmensch weniger gestresst war, wenn drei andere neben ihm waren, die auch kämpfen konnten.
Natürlich gibt es auch Menschen, die von ihrer Persönlichkeit her mehr Zeit für sich alleine brauchen – das sollen sie dann auch machen.
Der Faktor der nachhaltigen Wirkung ist zudem ein ganz wichtiger. Deswegen ist es wichtig, die richtige Sportart für sich zu finden, damit man ein inneres Bedürfnis entwickelt, weitermachen zu wollen. Dabei geht es nicht nur um die Physiologie des Körpers, sondern auch um den Spaßfaktor. Für die einen ist das Joggen, die anderen spielen lieber Volleyball im Team, wieder andere toben sich an Geräten im Fitnessstudio aus.
Es ist sehr schade, wenn Patient*innen die Klinik verlassen, und dann alles wieder von vorne losgeht, weil sie keinen Sport mehr treiben.
ottonova:
Wo kann man denn professionelle Hilfe außerhalb der Klinik finden?
Dr. Karsten Wolf:
Sportvereine und Sporttherapeuten sind hier eine gute Anlaufstelle. Viele Sportvereine bieten mittlerweile Reha-Sport an, etwa für Onkologie- oder Kardiologie-Patient*innen. Dort kann man professionelle Sporttherapeuten finden, die einen begleiten. Das gibt es für psychische Erkrankungen noch nicht, aber man ist dabei, das zu etablieren, damit wir deutschlandweit flächendeckend Angebote für den Psycho-Reha-Sport haben. Ein solches Angebot wäre wichtig, um die Patient*innen nachhaltig zu begleiten, so dass sie auch dranbleiben.
ottonova:
Sie hoffen also, dass Sport als Therapiemaßnahme für psychische Krankheiten genauso wichtig wird, wie bei der Behandlung von physischen?
Dr. Karsten Wolf:
Vor 30 bis 40 Jahren war der Stand der Medizin, dass Herzpatient*innen keinen Sport mehr treiben durften; sie haben ein dauerhaftes Bewegungsverbot bekommen – aber aufgrund der Forschungsergebnisse von Wildor Hollmann hat sich diese Annahme grundlegend verändert. Er hat bewiesen, dass Sport nach einem Herzinfarkt einen neuen Herzinfarkt verhindert. „Er bringt die Leute um, der ist doch verrückt“, hieß es damals. Heute ist es Standard. Ein Arzt, der einem Herzpatient*innen nicht rät, Sport zu treiben, macht einen Kunstfehler.
Und ich hoffe, dass es bald auch völlig normal sein wird, dass schwer depressiven Menschen empfohlen wird, Sport zu treiben; und wer es nicht rät, der sollte haftbar gemacht werden können.
Der Privatdozent Dr. Karsten Wolf ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und und Ärztlicher Leiter der Libermenta Klinik Schloss Gracht. Seine Behandlungsfelder reichen von Depression, Burnout, Schizophrenie, Angst- und Zwangsstörungen über Trauma-Folgeerkrankungen bis hin zur dissoziativen und bipolaren Störung. Seine Habilitation erfolgte auf dem Gebiet der experimentellen und angewandten Emotionsforschung. Seit 2012 wird er jährlich bei der Auszeichnung der Top-Mediziner Deutschlands von Focus berücksichtigt.
Marie-Theres ist Online Redakteurin für Gesundheits- und Versicherungsthemen bei ottonova. Sie konzipiert den Redaktionsplan, recherchiert und schreibt vor allem über (E-)Health und Innovation, die das Leben besser machen.