ottonova Interview mit Selfapy: Wie psychologische Hilfe digital gelingen kann
Im Interview gibt uns eine der drei Selfapy-Gründerinnen, Nora Blum, Einblicke in die digitale Psychotherapie und wir wagen gemeinsam mit ihr einen Blick in die Zukunft des Gesundheitsmarktes. Über E-Health-Start-ups, Apps auf Rezept, Regularien für Medizinprodukte und die Rolle des Patienten.
Inhalt des Ratgebers
Update
Seit Dezember 2020 ist der Depressionskurs als erste Depressionsapp im DiGA-Verzeichnis auf Rezept erhältlich. Seit Juni 2021 können auch die beiden Kurse gegen Angst- und Panikstörung von Therapeuten und Therapeutinnen verordnet werden.
ottonova: Lass uns doch mit der Produktidee einsteigen. Wir finden eure Idee, wie man jetzt insbesondere Therapieformen präventive Maßnahmen digital abbilden kann, sehr interessant. Was ist denn die Vision von Selfapy im digitalen Gesundheitsmarkt?
"Mit Selfapy verfolgen wir das Ziel, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen schneller Hilfe bekommen."
Nora: Selfapy möchte Menschen mit psychischen Erkrankungen helfen. In Deutschland ist es aktuell so, dass man monatelang auf einen Psychotherapie-Platz warten muss, da es einfach zu wenig Psychotherapeuten gibt, die einen Kassensitz haben. Zusätzlich ist die Verteilung nicht optimal. Insbesondere Leute in ländlichen Regionen warten sich buchstäblich halb tot und das ist etwas, was wir lösen wollten. Deswegen haben wir angefangen, Online-Kurse zu entwickeln, die Betroffenen mit Hilfe von Videos, Audios und Übungen die Strategien der Verhaltenstherapie beibringen.
Man muss sich das so vorstellen, dass man in der klassischen Psychotherapie auch oft Hausaufgaben bekommt. Es geht in der kognitiven Verhaltenstherapie sehr viel darum, dass man erst das „Was IST?“ betrachtet und dann im nächsten Schritt schaut, wie man Dinge ändern kann. Wir geben den Nutzern die Hausaufgaben an die Hand, die ebenfalls in der klassischen Verhaltenstherapie genutzt werden – bei uns nur eben digital.
Gleichzeitig haben wir aber festgestellt, dass es nicht möglich ist, komplett digital Menschen mit psychischen Erkrankungen zu behandeln, und dass es sehr wichtig ist, einen Ansprechpartner zu haben. Das ist ein Aspekt, der nicht wegdigitalisiert werden kann.
Studiendaten
Einer Studie an der Berliner Charité aus dem Oktober 2021 mit 401 Patient:innen mit Depression zufolge konnte durch den Onlinekurs von die depressive Symptomatik um bis zu 46 Prozent gegenüber dem Ausgangswert gesenkt werden. Die Angstsymptomatik sank um knapp 45 Prozent gegenüber dem Ausgangswert. 21,6 Prozent der Teilnehmer erreichten sogar ein dauerhaftes Nachlassen der Krankheitssymptome und zeigten nach Absolvierung des Programms keine oder nur noch minimale depressive Symptome.
ottonova: Der wichtigste Punkt ist also die zwischenmenschliche Interaktion?
Nora: Auf jeden Fall ist dies ein sehr wichtiger Aspekt. Es ist wichtig, dass der Nutzer das Gefühl bekommt, dass er begleitet wird, dass es jemanden gibt, der sich kümmert, dass die Symptomatik besser wird und reagiert, wenn dem nicht so ist. Jemand, der auf Fragen antwortet und einen die drei Monate lang an die Hand nimmt. Ob per Telefon oder per Nachricht ist da erst mal zweitrangig.
ottonova: Also das ist die Verknüpfung, die ihr anbietet, trotzdem digital gesteuert aber mit der menschlichen Komponente. Auch nochmal ein Thema, das uns sehr beschäftigt, ist die Startup-Gründung im digitalen Gesundheitsmarkt. Wie siehst du die Entwicklung in diesem Markt in den letzten Jahren? Welche Ausrichtung nimmst du gerade wahr?
Nora: Im ganzen E-Health Bereich passiert gerade so viel wie nie zuvor. Wir sind ja auch schon seit 5 Jahren dabei und derzeit überrollen sich die Ereignisse.
Zum einen hat Jens Spahn als Gesundheitsminister mit dem Digitale Versorgung Gesetz ordentlich Druck gemacht. Das Gesetz ermöglicht digitalen Gesundheitsunternehmen den Schritt in die Regelversorgung. Das ist etwas, worauf wir seit 5 Jahren hinarbeiten und es ist schön, dass es endlich stattfindet und digitale Angebote verschreibungsfähig werden.
Gleichzeitig zeigt die unschöne Situation mit Corona noch einmal deutlich die Notwendigkeit für die Digitalisierung.
ottonova: Noch mal eine Frage auch was das Thema Ausdifferenzierung und Zentralisierung von Angeboten angeht. Weil durch Corona merkt man ja auch, dass es einen „Need“ für digitale Angebote gibt und dafür die Akzeptanz steigt. Siehst du da den Trend, dass es noch mehr Anbieter am Markt geben wird oder denkst du, es wird eine Zentralisierung und Monopolisierung von Angeboten geben?
Nora: Also im Moment ist es eher eine Phase, in der es mehr Anbieter geben wird, weil die Eintrittsbarrieren sehr viel niedriger werden. Die Chancen, auf dem Markt Fuß zu fassen, werden größer. Ich denke jedoch, dass nach der Welle in der vielen weitere Apps gestartet werden, es danach auch wieder eine Konsolidierung geben wird am Markt.
Selfapy
Selfapy ist eine App zum Erfassen und Verstehen Deiner Stimmung und belastenden Verhaltensweisen. Eine persönliche Auswertung Deines Stimmungstagebuchs ermöglicht es Dir, negative Auslöser zu erkennen und Dein psychisches Wohlbefinden nachhaltig zu verbessern.
ottonova: Aber das siehst du jetzt im Moment noch nicht?
Nora: Nein, momentan sehe ich eher, dass es am Markt mehr Gründungen gibt und auch viel im Gesundheitsbereich investiert wird.
ottonova: Wie blickst du denn vor dem Hintergrund der Corona Krise in die Zukunft zum Thema App auf Rezept?
Nora: Ich bin insbesondere im Hinblick auf die Corona Krise froh, dass es bald digitale Anwendungen in der Regelversorgung geben wird. Insbesondere in einer Phase wie jetzt brauchen Menschen Hilfe. Am besten niederschwellig und digital. Jetzt, wo der Bedarf so klar wird, ist es absolut wichtig, dass eine Infrastruktur in diesem Segment geschaffen wird, die den digitalen Anwendungen den Eintritt in die Regelversorgung ermöglicht, damit Menschen schnell und digital geholfen werden kann.
ottonova: Das momentane Bedürfnis nach digitalen Hilfsangeboten und die Bereitschaft diese auch zu nutzen sieht man sicher auch schon an den Nutzer Zahlen, oder?
Nora: Ja, wir hatten seit Ausbruch der Pandemie einen deutlichen Anstieg an Nutzeranfragen. Und dann ist es eben schade, wenn man nur denen helfen kann, die sich das leisten können oder bei einer Krankenkasse versichert sind, die mit uns einen Selektiv-Vertrag hat. Diese Differenzierung wird es in Zukunft zum Glück nicht mehr geben.
ottonova: Wir haben ja ein ähnliches Thema bei ottonova: wir bieten eine telemedizinische Anbindung an, dürfen diese aber gesetzlich nicht vermarkten. Der Gesetzgeber reguliert die Nutzung medizinischer Produkte ja sehr stark, was per se ja eine gute Sache ist. Auf der anderen Seite ist aber der Bedarf an digitalen therapeutischen Anwendungen sehr groß. Wie schafft ihr es Vertrauen für Selfapy eine aufzubauen und ihr als seriöse Marke wahrgenommen werdet?
Nora: Ich glaube, jeder, der bei uns mal angerufen hat, hat gemerkt, dass wir uns sehr darum bemühen, dass die Nutzer zufrieden sind und immer einen persönlichen Ansprechpartner haben. Wir sind keine reine App.
Der zweite Punkt ist, dass es vielen auch um die Menschen geht, die dahinterstehen. Meine Mitgründerin Kati und ich sind Psychologinnen. Wir bringen also die fachliche Expertise mit und sind gleichzeitig mit dem Herzen dabei. Wir streben nicht nach dem größten Exit, wir streben nach dem bestmöglichen Gewinn für die Patienten. Und das glauben uns die Leute auch.
Wir haben außerdem auch viele Partner, die uns unterstützen. Wir arbeiten zum Beispiel mit Professoren und Wissenschaftlern, und lassen unsere Kurse durch die Charité, die Universität Heidelberg oder die Universität Gießen evaluieren. Das schafft Vertrauen am Markt.
ottonova: Wie siehst du denn generell die Rolle des Patienten beim Thema Digitalisierung? Wenn man das strukturell betrachtet, gibt es ja verschieden Interessengruppe. Zum Beispiel Lobbygruppen und Pharmaindustrie, die Versicherer und dann irgendwo dazwischen den Patienten.
Nora: Ich finde Digitalisierung ermöglich es, dass der Patient mehr im Mittelpunkt steht und sich seine Angebote selbst aussuchen kann. Er ist dann nicht mehr so stark davon abhängig, wo er wohnt, versichert ist und was er sich leisten kann. Die Digitalisierung gibt dem Patienten einfach mehr Freiraum hinsichtlich der Sicherstellung seiner Gesundheit.
Wie geht Digitalisierung und Big Data ohne Souveränitätsverlust für den Patienten?
ottonova: Der Patient benötigt hier also eine stärkere Rolle in der ganzen Digitalisierungs- Entwicklung. Siehst du den Patienten eben diese Souveränität wahrnehmen? Oder meinst du das ist jetzt in dieser Lobby-Diskussion bisher untergegangen?
Nora: Da muss man natürlich immer schauen, dass wenn man neue Strukturen im Gesundheitswesen schafft, insbesondere an den Patienten und seine Interessen einzubeziehen. In Bezug auf das DVG habe ich aber auf jeden Fall das Gefühl, dass der Patient diesmal stärker im Mittelpunkt steht.
ottonova: Welche Themen würdest du in einem Jahr gerne ansprechen?
Nora: Ich würde darüber sprechen wollen, wie der Realvertieb von Apps in der Gesundheitsbranche nun wirklich aussieht. Da stehen derzeit noch sehr viele Fragezeichen über den Köpfen aller Akteure. Werden Ärzte und Psychotherapeuten digitale Anwendungen wirklich Ihren Patienten verschreiben? Wie sieht es in der Praxis aus? Wer nutzt es im Endeffekt? Aktuell kann dies noch keiner beantworten. Ende des Jahres sollen die ersten Angebote verschreibungsfähig sein, dann sind wir schlauer. Ich bin sehr gespannt auf das Fazit des DVGs nach einem Jahr.
Wer ist Nora Blum?
Nora ist Mitgründerin von Selfapy – Eine Online Therapie Plattform für psychische Erkrankungen. Sie kommt aus einer Psychotherapeutenfamilie und ist selbst Psychologin.
Ihren Einstieg in die Wirtschaft hatte sie bei Rocket-Internet und hat dort verschiedene Unternehmen mit aufgebaut, bevor Sie Selfapy mitbegründet hat.
HIER SCHREIBTMarie-Theres Rüttiger
Marie-Theres ist Online Redakteurin bei ottonova. Sie konzipiert den Redaktionsplan, recherchiert und schreibt vor allem über E-Health, InsurTech und digitale Innovation, die das Leben besser machen.