Psychotherapie & KI: Interview mit Eva Gjoni von mAIndcraft
Ki in der Psychotherapie klingt nach Science-Fiction? Nein! Wir haben mit Psychologin Eva Gjoni darüber gesprochen, wie neue Therapiekonzepte mit Hilfe von Daten die psychotherapeutische Versorgung verbessern können. Außerdem geht es darum, wie wir die Herausforderungen der Pandemie mental meistern.
Inhalt des Ratgebers
ottonova:
Die Pandemie stellt uns alle vor viele nie dagewesene Problematiken: Ihr habt darauf reagiert und habt eine Plattform für Videopsychotherapie ins Leben gerufen. Erzählst du uns ein wenig über „bleib psychisch gesund“?
Eva:
Gerne. Unter dem Motto „bleib psychisch gesund“ haben wir eine kostenlose Hotline mit Live Beratungssitzungen per Videotelefonat ins Leben gerufen. Es funktioniert ohne Anmeldung und Registrierung. Der Anrufende landet über unsere Homepage mit einem Klick im digitalen Gesprächszimmer. Dann wird er per Video Anruf sofort mit einem Therapeuten verbunden. Das Gespräch kann auch vollständig nur als Audioanruf anonym stattfinden. Ist eine Psychotherapie erforderlich, kann diese online bei uns und wenn möglich auch vor Ort stattfinden.
Der Vorteil daran ist, dass wir die Soforthilfe mit den Vorzügen der Telemedizin verbinden, um den schnellen Zugang zur Erstevaluation und zur Psychotherapie zu schaffen. Wir haben die neuartige Plattform in Rekordzeit als besondere Antwort zu Covid19 aufgebaut und damit eine Lösung, die über das digitale Wartezimmer mehr als 250 Videogespräche gleichzeitig ermöglicht.
Alltäglich rufen Menschen aus ganz Deutschland bei uns an. Hinter der Plattform steht ein professionelles Netzwerk aus Psychologen und Ärzten aus ganz Deutschland, die mit professionellem Rat zur Erstevaluation und wenn nötig mit Psychotherapie helfen können. Damit haben wir tatsächlich ein sehr gutes Modell für die Verbesserung des Zugangs zu psychotherapeutischer Hilfe geschaffen.
ottonova:
Konntest du in deinem Berufsalltag als Psychologin feststellen, dass die mentalen Probleme durch die Pandemie zugenommen haben?
Eva:
Nicht nur in meinem Berufsalltag ist es zu beobachten, sondern auch Studien zeigen, dass die psychische Belastung tatsächlich aufgrund des Gefühls von Kontrollverlust, der Unplanbarkeit, der Isolation, des Mangels an Kontakt und insgesamt durch die zunehmende Erschöpfung zugenommen hat. Hinzu kommt natürlich auch die Doppelbelastung für die Familien, insbesondere auch für die Alleinerziehenden, aber auch für die Menschen, die unter den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie leiden. Eine noch nie dagewesene Kette an psychischen Belastungsfaktoren, die je nach Verlauf der Pandemie und Jahreszeit, die ganze Breite der Bevölkerung ansprechen. Aus meiner Sicht gibt es so gut wie keine Bevölkerungsgruppe, die in irgendeiner Weise nicht davon betroffen ist.
Durch die Pandemie bin ich online mit so vielen Patienten aus ganz Deutschland ins Gespräch gekommen, wie es zuvor allein logistisch schon nicht möglich gewesen wäre. Das war eines der positiven Dinge: Ärzte und Psychologen wie auch Patienten haben sich schnell auf die neuen Kommunikationsmöglichkeiten wie Videogespräche eingestellt und die Reichweite vergrößert.
Ich erinnere mich immer wieder gerne daran, wie schnell das alles auf einmal möglich war. Während wir davor so oft und lange über den Sinn und Zweck der Digitalisierung debattiert haben und es manchen Menschen insbesondere als Therapiekontext als Ding des Unmöglichen erschien, war es innerhalb weniger Wochen offensichtlich, dass wir online Therapie machen können.
Während wir davor so oft über die Digitalisierung gesprochen haben und es manchen Menschen als Ding des Unmöglichen erschien, war es innerhalb paar Wochen offensichtlich, dass wir online Therapie machen können.
Das heißt die Regularien für Online-Therapie wurden im Rahmen der Pandemie angepasst?
Eva:
Noch vor einem Jahr – das kann man sich jetzt gar nicht mehr vorstellen – hatten wir sogar ein Fernbehandlungsverbot. Vor der Pandemie galt in der Psychotherapie die Regelung, dass nur 20 % der Therapiestunden online stattfinden durften, die Aufhebung dieser Einschränkung wird seit Pandemiebeginn schrittweise verlängert. Das ist auch einer der positiven Aspekte der Pandemie – die schnelle Veränderung.
Patienten haben sich nicht mehr getraut in die Praxen zu kommen und waren dann froh, um die Möglichkeit der Videotherapie. Die ersten Anzeichen einer Zunahme der mentalen Belastung und der Anfragen an uns haben wir dann ab Anfang des Sommers gespürt.
Immer mehr wird über die psychischen Folgen der Pandemie gesprochen und auch besondere Maßnahmen werden getroffen. Es ist jetzt einfacher geworden, sich einzugestehen, dass eine psychische Belastung vorliegt. Psychische Probleme werden allmählich entstigmatisiert. Und das ist natürlich an sich ein positiver Schritt. Der Zugang zu online Therapie erleichtert zusätzlich die Hürde, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
ottonova:
Viele arbeiten jetzt ja auch im Home-Office, haben keine Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz mehr. Hast du als Psychologin ein paar Tipps, wie das nicht das nicht zur zusätzlichen Belastung wird?
Eva:
Es ist ja einiges positiv am Home-Office: Global steht die Beobachtung fest, dass anders als befürchtet, Menschen im Homeoffice produktiver sind und länger arbeiten. Die Geborgenheit durch die eigene Wohnumgebung und die Entlastung durch den Wegfall der Arbeitswege kann sich sehr positiv auswirken. Aus langer psychischer Sicht sehe ich aber die Effizienz für gefährdet, wenn eine klare Trennung zwischen Arbeit und Freizeit schwer fällt. Wer mehr arbeitet, ist dadurch alleine nicht effizienter, sondern möglicherweise erschöpfter. Solche Routinen wie der Weg zur Arbeit und der Kontakt zu Mitarbeitern, die die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit bewirken, fehlen. All diese äußeren Bedingungen tragen zur Strukturierung des Tages und perspektivisch auch zur Regulierung des Wohlbefindens.
Es ist daher wichtig, Rituale zu ersetzen und klar zwischen Freizeit und Arbeitszeit zu trennen. Die Mittagspause bewusst wahrnehmen: Einmal rausgehen für einen Spaziergang. Sich morgens anziehen, als ob man ins Büro fahren würde und abends den Arbeitstag durch ein symbolisches Ritual bewusst beenden. Auch Rituale zur Pflege der psychischen Hygiene, die für Entspannung und Achtsamkeit im Alltag sorgen, sind relevanter denn je. Das und auch die digitale Sozialisierung mit Kollegen sind Dinge, die sich bewährt haben.
ottonova:
Ihr habt mit eurer Videohotline einen Beitrag dazu geleistet, um Menschen mit neuer Technologie zu helfen. Jetzt möchte ich gerne den Bogen zu eurem neuen Projekt mAIdncraft schlagen, die sich einem ganz neuen Ansatz widmet. Nämlich der Verbindung von KI und Psychotherapie. Dafür habt ihr ja auch erst kürzlich einen Preis bekommen. Erklärst du uns bitte den Ansatz?
Eva:
Zum einen geht es um die Optimierung des schnellen Zugangs zur passenden Therapie. Durch intelligente Zuordnung der Patientenbeschwerden und deren Präferenzen zu geeigneten Therapeutenprofilen oder Therapieinhalten werden zugleich Patientenbedürfnisse erfüllt und Therapieressourcen optimal geschont. Zum Beispiel je nach Patientenpräferenz kann ein niederschwelliger Bedarf mit einem niederschwelligen Angebot aus dem Repertoire der therapeutischen Selbsthilfeübungen verknüpft werden. Passend zu einem anspruchsvollen Bedarf hingegen hilft ein hoch spezialisierter Therapeut. Diese Optimierung ermöglicht, die vorhandenen Therapeuten-Ressourcen passgenau einzusetzen und therapeutisch wertvolle Inhalte für die schnelle Selbsthilfe zugänglich zu machen.
Zum anderen geht es um die Verbesserung der Effektivität durch die Personalisierung der Therapie. Basierend auf intelligenter Analyse von Datenerhebungen über Zeit werden passgenaue und personalisierte Lösung für den Patienten zugeschnitten. Auf Grundlage von Daten geht es außerdem darum, personalisierte Handlungsempfehlungen aussprechen, die über die Therapiesitzung hinaus gehen, um den Patienten bestmöglich in seinem Alltag begleiten zu können.
Der Nutzen für den Patienten: Er bekommt den Therapeuten und die Therapieempfehlung, welche zu seiner spezifischen Situation passen. Dadurch steigt die Kontrolle und damit die Effektivität der Therapie. Und der Nutzen für den Therapeuten ist, dass der Workflow und die Therapietreue besser werden.
ottonova:
Das heißt die Idee kam quasi auch aus dem Umstand heraus, dass die Ressource Therapeut effektiver eingesetzt werden muss, weil es mehr Bedarf an Psychotherapie gibt und dass es oft ein Missmatch gibt von Bedarf des Patienten und Therapie?
Eva:
Ganz genau! Ich bin Psychotherapeutin und glaube die Erfahrung vieler Psychotherapeut* innen zu teilen, dass es sehr belastend ist, Menschen, die um therapeutische Hilfe bitten, abzusagen oder aus Zeitmangel Wartelisten nicht mehr bearbeiten zu können. Ich habe den Beruf gewählt, um zu helfen und nicht Absagen zu verteilen. Die negative Auswirkung der Versorgungsdefizite auf den eigenen Berufsalltag trifft sozusagen die Selbstidentität der Psychotherapeuten.
Während meiner Arbeit in verschiedenen Stationen der Gesundheitsversorgung war ich stets mit dem Missmatch zwischen meiner Ressourcen und dem Patientenbedarf konfrontiert. Eine der schwierigsten Fragen war: Wo finde ich jetzt das beste Angebot für den Patienten?
Die Patientenjourney ist manchmal wirklich schwierig: Erstmal kann die Person gar keinen Therapieplatz oder Therapieangebot finden und dann, wenn er einen gefunden hat, ist es vielleicht nicht wirklich passend. Da geht so viel Zeit verloren. Und – selbst bei einem Matching erlebt die Person die passende Unterstützung in einer 50 minutigen Sitzung einmal in der Woche. Und was passiert dazwischen? Es ist für manche Patienten sehr schwer, die Therapieziele zwischen den Sitzungen zu verfolgen.
Sollte es aber der Person dann schlechter gehen und wir aber als Alternative dazu, beispielsweise nur wieder eine stationäre Behandlung anbieten, dann haben wir ihm zwar in dieser Phase gut geholfen aber nicht wirklich viel getan, um sie langfristig in ihrer Selbständigkeit zu verhelfen.
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ottonova:
Und da hakt ihr mit mAIndcraft jetzt ein, um die bestmögliche Therapie für jeden einzelnen Patienten auf Grundlage von Daten, die eine KI füttern, zu finden?
Eva:
Ich habe ja vorhin von Personalisierung gesprochen. Die KI kann uns unterstützen, dieses Prinzip umzusetzen.
Eine der schwierigsten Aufgaben in der Therapie (und der Gesundheitsversorgung im Allgemeinen) ist die evidenzbasierten Methoden mit den individuellen Merkmalen und Profilen der Patienten zu verknüpfen. Die Frage „welche Intervention für welchen Patienten in welcher Situation besser passt“, ist einfach mit den menschlichen Ressourcen nicht zu lösen. Und das ist aber genau das brennende Anliegen für den Patienten: Genau dann die Therapielösung zu haben, wenn die Probleme auftauchen und am besten im realen Leben, also außerhalb der Therapiesitzung.
Das Potential, Daten und und KI in der Therapie einzusetzen, ist ein sozusagen ein großes disruptives Versprechen für die Zukunft, eine patientenzentrierte Versorgung zu ermöglichen.
Wenn der Patient sozusagen mithilfe der KI die eigenen Daten in den therapeutischen Prozess bringt, kann die KI durch seine Angaben, durch Dokumentation des Verlaufs, aber auch durch objektive Messung der Vitalparameter, die zum Beispiel durch eine Smartwatch oder durch Handysensoren gemessen werden können, eine Vorhersage bestimmter Muster ermöglichen und voraussagen, welche Intervention am besten in der und der Situation helfen würde. Denn sie lernt ja aus diesem therapeutischen Verlauf.
ottonova:
Die schnelle Verarbeitung von Daten ist also das zentrale Instrument in dieser Therapieform?
Eva:
Ja. Die Patientendaten gehen zum einen nicht verloren, sie werden auch ein sehr wichtiger Teil des therapeutischen Prozesses und können von der KI analysiert und eingeordnet werden. So rückt der Patient mit seiner Geschichte und seinen Erlebnissen neben der evidenzbasierten Indikatoren selbst ins Zentrum der Therapieentscheidungen und kann wie auch der Therapeut das höchste Gut der Kontrolle erhalten: Einsicht!
ottonova:
Das macht also das Monitoring und auch das Selbstmonitoring einfacher?
Eva:
Ganz genau. Die Vorteile dieses Ansatzes lassen sich am Beispiel chronischer Verläufe zeigen, wo es auch darum geht, im Alltag über die Erkrankung oder die schwierigen psychischen Herausforderungen hinaus Kontrolle zu behalten. Mit einer digitalen Assistenz ist es viel leichter, im Alltag aktiv zu bleiben, die Herausforderungen zu bewältigen und die Therapieziele zu verfolgen.
Nicht nur hat der Patient eine technologie-gestützte Lösung in der eigenen Tasche, sondern auch die Sicherheit, dass er, wenn es nötig ist, jederzeit in Kontakt mit den Therapeuten treten kann.
ottonova:
Welche Hürden siehst du denn für diesen neuen Ansatz von KI-basierter Therapie, gerade auch was die Zulassung betrifft?
Eva:
Was sich an erster Stelle als Herausforderung stellt, hat mit dem Kern der Innovation zu tun, aus kontinuierlichen Datenerhebungen zutreffende personalisierte Vorhersagen zu treffen.
Voraussetzung dafür sind hochqualitative repräsentative Daten und die Evidenz- basierte Validierung der daraus identifizierten Indikatoren. Für den Gesamtprozess ist der klinische Kontext, dort wo die reale Behandlung stattfindet, unverzichtbar. Und dafür braucht es eine enge Zusammenarbeit mit Therapeuten und Patienten, um den Mehrwert verständlich zu machen. Was digitale oder online Therapie ist, das ist mittlerweile breit verständlich. mAIndcraft geht jedoch über den digitalen oder analogen Therapiekontext hinaus. Der Transfer der technologielastigen Begrifflichkeiten und Konzepte auf den Nutzen im therapeutischen Alltag, erfordert Übersetzungsleistung.
Auch die Datenschutz-Thematik erfordern besondere Aufmerksamkeit. Datenschutz ist eine Riesen-Aufgabe, die die Mitwirkung des ganzen Ökosystems aus den vielen unterschiedlichen Disziplinen von Therapeuten, Technologieexperten Leistungszahlern und rechtlichen Beratern, erfordert. Darauf setzen wir ein.
Die zweite Hürde sind natürlich erforderlichen Zertifizierungen und die Voraussetzungen für den Eintritt in den ersten Gesundheitsmarkt. Das ist zwar eine Hürde, aber auch eine Orientierungshilfe, die Menschen in der breiten Masse zu erreichen.
ottonova:
Danke dir für die Einblicke. Wir sind gespannt, wie es mit mAIndcraft weitergeht.
Eva:
Sehr gerne. Bis dahin bieten wir über BleibPsychischGesundweiterhin die Beratung oder Therapie, online oder face-to-face in mehreren Standorten in Deutschland an.
Wer ist Eva Gjoni?
Als Psychologin mit Masterabschluss in Kognitiven Neurowissenschaften und Dozentin leitet Eva Gjoni das therapeutische Team von bleibpsychischgesund und mAIndcraft. Nach mehrjähriger akademischer und klinischer Berufserfahrung im Gesundheitswesen und in ihrer eigenen psychotherapeutischen Praxis setzt sie sich mit mAIndcraft für effektivere und leichter verfügbare Psychotherapie durch den Einsatz von moderner Technologie ein.
Was ist mAIndcraft?
mAIndcraft wurde von Dipl.-Psychologin Eva Gjoni (Therapeutische Leitung) und Dr. Juli Hoxha (Technische Leitung) gegründet und will wissenschaftlich wirksame und patientenzentrierte und personalisierte Therapien für chronisch und psychisch Kranke ermöglichen. Dies gelingt durch die Verbindung von klassischer Therapie, Telemedizin und KI. mAIndcraft nutzt intelligente Datenanalysen, um Therapeuten personalisierte Interventionen zu ermöglichen. Dadurch ist es möglich, wirksame Strategien für Patienten vorherzusagen und diesen so im Alltag zu helfen.
Marie-Theres ist Online Redakteurin für Gesundheits- und Versicherungsthemen bei ottonova. Sie konzipiert den Redaktionsplan, recherchiert und schreibt vor allem über (E-)Health und Innovation, die das Leben besser machen.